Ein Essay aus Chemnitz – kurz vor der Bundestagswahl 2025
Gerade mal sechs Tage vor der außerplanmäßigen Bundestagswahl am 23. Februar 2025 veröffentlicht die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) einen Aufsatz1 der Soziologie-Professorin Susanne Rippl2.
Deren Arbeitsplatz, der Arbeitsbereich Politische Soziologie der TU Chemnitz3, begrüßt die Besucherinnen und Besucher seiner Website mit dem Wahlspruch: „The university is a critical institution or it is nothing“ [etwa: Die Universität ist eine kritische Institution oder sie ist nichts]. Geprägt hat dieses Motto der britische Soziologe Stuart Hall4, der sein Fach international maßgeblich beeinflusst hat. In ihrem Aufsatz: „Repräsentationslücken – Realität oder rechtspopulistisches Narrativ?“ wird die Autorin dem Anspruch ihres Arbeitsbereichs in besonderer Weise gerecht.
Ihr Text geht in sieben Kapiteln
– Gesellschaftlicher Wandel und die Neuorientierung der Wählerschaft
– Modernisierungsverlierer: Wählerschaft der Rechten
– Veränderungen der politischen Landschaft
– Aufstieg der Populisten
– Repräsentativität und politische Repräsentation
– "Lügenpresse“ – Repräsentationsdefizite in den Medien?
– Was kann man tun? Partizipation in der repräsentativen Demokratie Grenzen der Repräsentation
der Frage nach, ob es stimmt, „dass [die] etablierten Parteien die Interessen der Bevölkerung immer weniger vertreten“ und dass rechte Strömungen daraus massiv Kapital schlagen. Ein gut lesbarer Text, der gleichwohl einer soliden Wissenschaftlichkeit verpflichtet bleibt.
Ein Beispiel: Auf zwei Autoren gestützt stellt Susanne Rippl fest:
„Schäfer und Zürn (2021) bemängeln zudem die zunehmende Homogenität der Lebensläufe der Abgeordneten im Bundestag, die oftmals direkt vom Studium in die Politik wechseln. Der Anteil von Abgeordneten mit Abitur ist seit 1994 um beinahe 15 Prozentpunkte auf aktuell 81 Prozent angestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil von Abgeordneten mit Hauptschulabschluss von 12 auf 3 Prozent reduziert.“
Das ist und klingt sachlich, und doch transportiert diese Aussage eine kritische Wucht.
Abgeordnete sind sich demnach weitgehend ähnlich, haben weitgehend Ähnliches und ähnlich Weniges erlebt. Die sog. Lebenserfahrung, d. h. die Wahrnehmung der Vielfalt in der Gesellschaft und die notwendige, persönlichkeitsbildende Auseinandersetzung mit den Lebenszusammenhängen der Menschen, mit ihren Notwendigkeiten, ihren Sorgen, ihren Hoffnungen – von dieser Erfahrung sind Abgeordnete weitgehend verschont geblieben. So darf Frau Rippls Feststellung interpretiert werden.
Oder, um einen alten Kalauer zu bemühen, der „Entwicklungsroman“ zahlreicher Abgeordneter ist kein stattlicher Band prallvollen Lebens, ist nicht einmal eine dünne Broschüre, sondern er besteht aus drei mageren Wörtern: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal.
Tipp: Die zahlreichen kostenlosen Angebote der bpb und die stets günstigen Angebote im Shop der bpb sind höchst empfehlenswert. Von den mehreren Newslettern wird für die meisten Interessentinnen und Interessenten der erste auf der nach Zielgruppen differenzierten Übersichtsliste ausreichen: https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/service/newsletter/
22.02.2025
k.sch.
Anmerkungen
1 Aufsatz als PDF in unserer Bibliothek, gut lesbar auch als Link: https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/559465/repraesentationsluecken-realitaet-oder-rechtspopulistisches-narrativ/#node-content-title-3
2 Team: https://www.tu-chemnitz.de/hsw/soziologie/Professuren/Politische_Soziologie/Professur/kontakt.php
3 Arbeitsbereich: https://www.tu-chemnitz.de/hsw/soziologie/Professuren/Politische_Soziologie/index.php
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_(Soziologe)