Grafik: freepik

Bemerkungen zu einem Markenzeichen deutscher Politik

„Der Ausdruck German Eiertanz floss laut der Nachrichtenagentur Bloomberg 2011 als Lehnwort in den englischen Wortschatz ein, um die zögerliche Haltung Deutschlands in der Eurokrise zu umschreiben“, weiß Wikipedia.1 

Der Eiertanz d. h. „sich sehr vorsichtig, gewunden zu verhalten, in heiklen Situationen zu taktieren“2 ist mithin ein global zugängliches Markenzeichen deutscher Politik geworden.


Die allermeisten Politikerinnen und Politiker im Land beherrschen das Eiertanzen traumwandlerisch sicher. Für diese Kunst muss man ja auch nicht horrend begabt sein. Um sie zu zelebrieren, bedarf es u. a. lediglich eines simplen grammatischen Kniffs. 
Entscheidungsfragen – also Fragen, die ausschließlich mit Ja oder Nein beantwortet werden können – werden einfach ignoriert bzw. umgewandelt. Die Gefragten antworten so, als sei gar keine Frage gestellt worden oder allenfalls eine Ergänzungsfrage, die mit einem Satz oder mit einem Satzteil beantwortet wird. 


Schauen wir uns ein ‚unpolitisches’ Beispiel an. Person A fragt: „Gehst du am Sonntag mit mir ins Kino?“ Person B antwortet: „Das Wort Kino gibt es im Deutschen seit Anfang des 20. Jh., es ist eine Abkürzung des ‚Kinematographen‘, eines Begriffs, der vom französischen ‚cinématographe‘ abstammt. Diesen Ausdruck wiederum haben die  Brüder Lumière 1895 als sog. Neubildung in die Sprache unseres Nachbarlandes eingeführt. Ich selbst gehe gern und regelmäßig ins Kino und trage dadurch entscheidend dazu bei, dass das heutige Kino im Wettbewerb mit dem Fernsehen und mit  den sozialen Medien bestehen kann. An meinen ersten Kinobesuch kann ich mich lebhaft erinnern, da wurde …“.
Selbst der recht unerschrockene Markus Lanz schafft es in seiner Sendung im ZDF so gut wie nie, aus Politikerinnen und Politikern eine eindeutige, gültige Aussage herauszuquetschen. Seine an der Welt verzweifelnden Interventionen: „Jetzt antworten Sie doch einfach mal mit einem klaren Ja oder Nein!“ verpuffen im Nichts. German Eiertanz. Zu diesem gehören freilich noch andere Schritte und Drehungen, von denen hier nur dieses eine hervorstechende Element genannt sei.

Der Eiertanz um den „Völkermord“/„Genozid“ als Begriff für die schändlichen Aktivitäten Israels in Gaza wurde vor rund einem halben Jahr eröffnet, als Amnesty International (AI) es wagte, u. a. diese Sätze zu veröffentlichen:

 „Unser Fazit: es gibt hinreichende Beweise dafür, dass die israelischen Streitkräfte und Behörden dort einen Genozid an den Palästinenser*innen begangen haben. In dieser Bewertung sind wir uns mit vielen Völkerrechtler*innen, Genozidforscher*innen und UN-Expert*innen einig."3

Zu AI gesellte sich Medico International, eine ebenfalls politisch unabhängige zivilgesellschaftliche Organisation:

„Die Schlussfolgerung ist eindeutig, und medico teilt die Analyse, dass die israelischen Aktionen einen Völkermord darstellen. Auch wenn das Verfahren vor dem IGH noch nicht abgeschlossen ist, sind die umfangreichen Untersuchungen internationaler Menschenrechtsorganisationen und die Dokumentationen lokaler Organisationen, darunter langjährige Partner von medico international, zu umfangreich, um sie zu ignorieren. Deshalb wird medico zur Beschreibung der Handlungen des israelischen Staates in Gaza ab Oktober 2023 den Begriff „Völkermord“/“Genozid“ verwenden.“4

Medico International hob zudem darauf ab, dass die israelische Regierung sich in keiner Weise von den vorläufigen Auflagen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Januar 2024 beeindruckt zeigte und – statt diesen zu folgen – die Situation für die Menschen in Gaza weiter brutal verschlechterte.

Völkermord, Genozid: Der Aufschrei in Deutschland war groß, der Antisemitismus-Vorwurf war allgegenwärtig, ein Tabubruch schien vollzogen. Die angeblich unumstößliche „Staatsräson“5 wurde hervorgekramt, die deutsche Geschichte, die historische Verantwortung, Israels Recht auf Verteidigung. Alles. Anerkennenswert, dass sich die Tagesschau der ARD am 28.11.2024 immerhin um das Anstoßen einer fairen Diskussion bemühte.6 Kaum jemand wagte öffentlich zu bezweifeln, dass die sog. Staatsräson Deutschland etwa auferlegt, einer jeden Regierung Israels blindlings zu folgen, überall hin, ohne irgendeinen Mucks von Kritik. 
Kaum jemand wagte zu fragen, ob Deutschland nicht auch die Abertausenden von israelischen Bürgerinnen und Bürgern im Blick haben sollte, die entschieden und mutig gegen die mörderische Politik der nicht nur ‚in Teilen‘ religiös-rechtsradikalen Regierung Netanjahus demonstrieren, bis auf den heutigen Tag.  

Der feige Eiertanz geht weiter, in unterschiedlichen Tanzsälen, auf unterschiedlichen Parketts. Gute Gründe, den Genozid in Gaza als solchen zu bezeichnen, werden totgeschwiegen, Diskussionen werden nicht zugelassen. Gar werden Einladungen an nicht ganz ‚koschere‘ Personen auf Druck der Botschaft des Staates Israel widerrufen. So wurde der Philosoph Omri Boehm7, israelischer und deutscher Staatsbürger, von der Liste der Redner bei einer Gedenkfeier im KZ Buchenwald im April 2025 wieder gestrichen.8

Gute Gründe, den Völkermord klar zu benennen, gab es. So legte mit Stand vom Dezember 2024 das European Center for Constitutional and Human Rights (etwa: Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte, Sitz in Berlin) unter dem Titel: „Genozid in Gaza? Fragen und Antworten zum rechtlichen Hintergrund und aktuellen Entwicklungen“9 eine umfangreiche und höchst informative Darstellung vor. Allein schon diese hätte die Grundlage einer echten und redlichen Diskussion sein können.

Wer einmal den Eiertanz in Reinkultur, auf hoher staatlicher Ebene ‚genießen‘ möchte, dem seien die „Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 06.12.2024“10 empfohlen. Ist Eiertänzerin-und-Eiertänzer-Sein schon längst auch ein gut dotierter, verbeamteter Beruf? Wie wenig Selbstachtung muss jemand haben, der sich für solch einen Job hergibt. 
Die Geschichte des Wortes „Eiertanz“11 nimmt uns mit in alte Zeiten, wo dieser Begriff eine bestimmte tänzerische Kunstfertigkeit von Gauklern und Jahrmarktskünstlern bezeichnete. Nur waren die Gaukler von damals auf Almosen angewiesen. Keine Beamtenbezüge, nicht im Status: privatversichert.

Gibt es Hoffnung, wenigsten bei der jüngeren deutschen Generation? Gibt es Eiertanz-Verweiger*innen, in Anlehnung an Goethes Bemerkung in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“(12)? Wo sind die jungen Menschen, die mutig klare Worte sprechen und die auch gehört werden?
Man trifft eher auf Artiges bis Fragwürdiges wie z. B. bei Frau Neubauer, einer arrivierten Vertreterin der U30-Generation in Deutschland. Vorab und ernsthaft: Ihre Verdienste um das Bewusst-Machen der Klimakatastrophe sind unbestritten und dauerhaft gültig. Aber wer kommt nicht ordentlich ins Grübeln, der Frau Neubauers Einschätzung der Zustände in Gaza kennenlernt? Zu diesen hat sie sich zuletzt in der Berliner Zeitung vom 15. Mai 2025 geäußert. Sie redet ganz selbstverständlich nicht von Völkermord. Sie lässt dagegen artig erkennen, dass sie sich von ihrer bisherigen Freundin Greta Thunberg distanziert, da diese sich unumwunden für die Menschen in Gaza einsetzt. Der Artikel berichtet: „Für Neubauer sind die Kritik und die deutliche Abkehr von der sogenannten deutschen Staatsräson nicht ohne Risiko.“13 Neubauer spricht mit keinem Wort vom akuten Aushungern der Bevölkerung als bestialischer Variante der Kriegsführung Israels. Sie wird so zitiert: „…wo jedes zweite Kind unter Mangelernährung leidet. Jetzt gerade“. „Mangelernährung“ ist ein schäbiger Euphemismus, eine Verharmlosung, wo es um elendigliches, von Israel geplantes Verhungern geht. German Eiertanz. 

Unverzeihlich schließlich ist Frau Neubauers poetisch-sein-wollender, betulicher Gemütskitsch angesichts der historisch katastrophalen Situation in Gaza. Der letzte Satz des Artikels sagt: „Es falle ihr schwer, in eine Welt zu blicken, „in der Herzen brechen, weil in Gaza die Herzen aufhören zu schlagen“. OMG - Oh my God.

17.05.2025

k.sch.

PS. Meine feinsinnigen Leserinnen und Leser (vulgo: meine User*innen) haben es längst durchschaut. Die fröhliche Grafik über diesem Artikel ist ein ironisches Accessoire. Sozusagen der Eiertanz um den Eiertanz. Denn anstelle des putzigen Osterei-Menuetts gehört dort eigentlich die Abbildung eines ganz anderen Tanzes hin. Eines schaurigen Totentanzes, der vom Niedergang der Redlichkeit, vom Verschwinden der Glaubwürdigkeit und vom Sterben der Wahrheit in diesem Land erzählt. 


Anmerkungen

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Eiertanz, abgerufen am 15.05.2025.
2 Frei nach: https://www.duden.de/woerterbuch, abgerufen am 15.05.2025.
3 https://www.amnesty.de/israel-gaza-genozid-voelkermord-amnesty-bericht-informationen-hintergruende, abgerufen am 15.05.2025
4 https://www.medico.de/die-genozid-frage-19946, abgerufen am 15.05.2025.
5 Vgl. unseren Artikel: https://www.worldcitizens.de/d-i-b-beitraege/zerstoerung-vertreibung-und-voelkermord-als-staatsraeson.html ,abgerufen am 15.05.2025. 
6 https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-voelkermord-amnesty-international-100.html, abgerufen am 15.05.2025.
7 Vgl. unser Artikel: https://www.worldcitizens.de/d-i-b-beitraege/omri-boehms-origineller-spuersinn-fuer-das-wesentliche.html, abgerufen am 15.05.2025. 
8 https://taz.de/Streit-um-Omri-Boehm-in-Buchenwald/!6077339/, abgerufen am 15.05.2025.
9 https://www.ecchr.eu/fileadmin/Q_As/ECCHR_Q_A_Genozid_in_Gaza_20241210.pdf, abgerufen am 15.05.2025.
10 https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz-2689414, abgerufen am 15.05.2025.
11 „Eiertanz“, in: WAHRIG Deutsches Wörterbuch, 2011/2018, kuratiert und bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/wdw/Eiertanz, abgerufen am 15.05.2025.
12 S. Anm. 11.
13 https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/luisa-neubauer-greift-die-bundesregierung-an-herzen-brechen-denn-in-gaza-hoeren-sie-auf-zu-schlagen-li.2324771, abgerufen am 15.05.2025 (Zugang mit Bezahlschranke).

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