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Notwendige Fragen und Bemerkungen im Herbst 2024


Intro

Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland – im Weltmaßstab betrachtet – bietet Anlass zu erheblicher Sorge. Das Bild eines seit 35 Jahren politisch geeinten, wirtschaftlich und sozial stabilen Landes mit der Chance, damit ggf. Vorbild für andere Länder zu sein, scheint sich rasant zu verändern. Oder anders ausgedrückt ist dieses Ansehen bei der Mehrzahl der Länder dieser Welt dabei, in die Tiefe zu stürzen, so wie früher jährlich die Kohlevorräte für den Winter auf Holzrutschen von der Straße aus in die Keller polterten.

Warnung an die USA und an Deutschland 
Anzeichen für diesen Absturz gibt es viele, wir beschränken uns hier modellhaft auf die Rolle der BRD im Nahostkonflikt. Die Internationale zivilgesellschaftliche Organisation Human Rights Watch [HRW]1 bestätigte unsere Sorge Mitte November in einem Artikel2, in dem sie ihren jüngsten Bericht zur Lage in Gaza3 vorstellte.
HRW warnt die Bundesrepublik davor, mitschuldig zu werden an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Israel in Gaza begeht. Der HRW-Artikel hat den Titel: “Israel’s Crimes Against Humanity in Gaza – Mass Forced Displacement and Widespread Destruction” [„Israels Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza - Massenhafte Zwangsvertreibung und umfassende Zerstörung“].
Dort heißt es u. a.: “The United States, Germany, and other countries should immediately suspend weapons transfers and military assistance to Israel. Continuing to provide arms to Israel risks complicity in war crimes, crimes against humanity, and other grave human rights violations.” [„Die Vereinigten Staaten, Deutschland und andere Länder sollten Waffenlieferungen und die militärische Unterstützung für Israel sofort aussetzen. Wer Israel weiterhin Waffen liefert, riskiert die Mitschuld (Übersetzungsvariante:  Mittäterschaft) an Kriegsverbrechen, an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und an anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.“].
Es springt ins Auge, dass HRW sich auf zwei Länder fokussiert und sie namentlich anführt: die Vereinigten Staaten und Deutschland. Wörtlich zitiert HRW ihre Mitarbeiterin Nadia Hardman: “No one can be in denial about the atrocity crimes the Israeli military is committing against Palestinians in Gaza. … Transfer of additional weapons and assistance to Israel by the United States, Germany, and others is a blank check for further atrocities and increasingly puts them at risk of complicity.” [„Niemand kann die grausamen Verbrechen leugnen, die das israelische Militär gegen die Palästinenser in Gaza begeht.… Die Lieferung zusätzlicher Waffen und die Unterstützung Israels durch die Vereinigten Staaten, Deutschland und andere ist ein Blankoscheck für weitere Gräueltaten und bringt sie zunehmend in die Gefahr, sich mitschuldig zu machen.“]

Bundeskanzler bald zur Verhaftung ausgeschrieben? 
Steuern wir also darauf zu, dass nicht nur die Führer der Hamas und der israelische Premierminister Netanjahu sowie sein Verteidigungsminister per Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs [IStGH]4 festgesetzt werden müssen, sondern dass auch der Bundeskanzler und der Verteidigungsminister der BRD zur Verhaftung anstehen?
Oder denken manche in unserer Republik möglichweise schon: „Blöderweise hat Deutschland den IStGH nicht nur anerkannt, sondern finanziert ihn kräftig mit. Waren die USA und Israel und andere da gescheiter, als sie aus ihrer Sicht ein Hirngespinst als nicht für sie zuständig erklärten? Haben die Deutschen sich die Handschellen selber zurechtgelegt?“

Auffällige Berichterstattung zu Gaza – ein Beispiel
Verschiedene Anläufe bei Google News (zeigt in deutscher Sprache erschienene Medienbeiträge) waren vergebens: Eine Meldung der weltweit anerkannten Agentur Reuters zur Situation in Gaza wurde nach unserer Kenntnis von keinem deutschen Presseorgan redaktionell verarbeitet. Wohl aber fand der Text der Agentur in anderen Ländern Beachtung. Die Rede ist von Reuters‘ Artikel5 Ende Oktober zu einem Bericht des UN-Entwicklungsprogramms [UNDP]6 zur Lage in Gaza: “War has knocked Gaza back to the 1950s, UNDP says.“ Dieser markante Titel steht so über unserer Übersetzung7 der gesamten Reuters-Meldung ins Deutsche: „Der Krieg hat den Gazastreifen in die 1950er Jahre zurückgeworfen, sagt UNDP.“ Ein klarer, objektiver Artikel einer Agentur, die in keiner Weise im Ruf steht, propalästinensische bzw. antisemitische Propaganda zu betreiben. 

Staatsräson – die unheilvolle Variante
Widmen wir uns der im Titel angesprochenen Staatsräson. Es erscheint überflüssig, unseren Leserinnen und Lesern zu erläutern, was gemeint ist. Der Klarheit halber sei hier der Wortlaut der unheilvollen Einlassung von Frau Merkel wiedergegeben, die sie am 18. März 2008 in der Knesset, dem israelischen Parlament, vom Stapel ließ: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar."8
Unheilvoll, weil ihr Statement eine Rigorosität in die Welt setzte, die einerseits in einen quasi religiösen Dunst eingehüllt war und der andererseits als unsichtbares Etikett die Lieblingsvokabel dieser Frau anhaftete: „alternativlos“. Was nichts anderes bedeutet, als dass es sinnlos sei, über etwas diskutieren zu wollen, das sie als alternativlos festgezurrt hatte – ein Schachzug, der vorurteilsloses, gleichberechtigtes Sprechen und Zuhören verunglimpft und verhindert. Der pseudoreligiöse Dunst, so der Eindruck, hat sich über die Jahre zu einer schweren, grauen Wolkendecke aufgetürmt, die kaum einen Lichtstrahl heller, lebensbejahender Vernunft durchlässt. 
Unter dieser Decke hat sich ein schriller Anti-Antisemitismus zum unwürdigen gesellschaftlich-politischen Standard entwickelt – auch alterativlos. Mit anderen Worten blüht und gedeiht unter dieser Wolke der wohlfeile, allgegenwärtige Verdacht, jeder und jede könne eine Antisemitin bzw. ein Antisemit sein, wenn sie oder er diese Alternativlosigkeit mit Stirnrunzeln oder gar mit Worten anzweifelt. 

Staatsräson – die objektive Variante
Doch schauen wir uns den Begriff Staatsräson einmal unbefangen an. Die Bundeszentrale für politische Bildung [bpb], die wir eben als Quelle für das Merkel-Zitat genannt haben, ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren9. Sie hat, man höre und staune, in ihrer Publikation „Das junge Politik-Lexikon“10– wohl gedacht für jüngere Menschen und für den Einsatz in Schulen – etwas Cooles zur Staaträson zu sagen: „In demokratischen Staaten spielt die Staatsräson, wie sie hier beschrieben ist, keine Rolle mehr.“ Denn, so ein paar Zeilen zuvor: „Das Prinzip der Staatsräson … hatte in früheren Jahrhunderten, als noch Könige und Fürsten über die Staaten herrschten, große Bedeutung. Es besagte, dass die Interessen des Staates über alle anderen Interessen gestellt wurden. Wenn die Staatsmacht der Ansicht war, dass es dem Interesse des Staates dienen würde, konnten Gesetze aufgehoben und sogar die Rechte der einzelnen Menschen missachtet werden [Hervorhebung des Autors]. Der Staat stand über allem.“
„Autsch“ könnte man flapsig sagen, wäre der Gegenstand nicht bitterernst. Wurde da von Frau Merkel ein dumpfer, für eine Demokratie toxischer Begriff eingeführt, mit allen den von uns angedeuteten Folgen? Ein rückwärtsgewandtes machiavellistisches bzw. L’état-c’est moi-Denken, in dem die Menschen nichts wert sind, ohne viel Federlesens auf Schlachtfelder geschickt werden? 

Nachdenken vonnöten 
Es wäre sicher eine gute Idee, einmal ruhig, gelassen und öffentlich über dieses Staatsräson-Monstrum nachzudenken, das Frau Merkel zwar nicht als Erste in die Welt gesetzt, wohl aber an prominenter Stelle platziert hat, mit dem unsichtbaren Mindesthaltbarkeitsdatum: „ewig“. 
Einmal darüber nachzudenken, warum von den Menschen als Menschen in solchen Denk-Schemata nicht die Rede ist. Als Menschen, gleich, wo sie wohnen, gleich, welcher Religion sie anhängen, gleich welche Hautfarbe sie haben. Und vor allem gleich, unter welchen Begriffen von Volk, Nation, Staat man sie subsumiert, zusammengefasst hat. 
Es ist zu fragen, ob Politikerinnen und Politiker oder sonst sich wichtig fühlende Zeitgenossinnen, wenn sie diese von uns skizzierte Perspektive nicht einnehmen, dann überhaupt Grundprinzipien („Staatsräson[en]“) oder gar Werte propagieren dürfen. Es gibt keine „westlichen“, „deutschen“, „europäischen“ Werte, die nur für eine egozentrische Gruppe aufgestellt sind. Werte sind unumstößlich, ohne jegliche Einschränkung radikal universal. Sie gelten immer und überall. Das sollte man vom Philosophen Immanuel Kant gelernt haben, wenigstens das. Auch eine Bundesministerin sollte das einmal gehört haben. 
Ein weniger abstrakt formuliertes Beispiel: Frau Baerbock stellt immer gern heraus, dass z. B. die Ukraine ‚unsere‘ Werte teilt und vertritt, dass dort Menschen für ‚unsere Werte‘ Krieg erdulden, sterben. Doch als sie unlängst in Indien unser Land vertrat, sprach sie von den politisch Verantwortlichen der einwohnerreichsten Demokratie auf dem Planeten als von ‚Wertepartnern‘. Wobei freilich die Bedeutung des Wortes ‚Partner‘ gedehnt werden kann bis zur Bedeutung ‚Gegner‘. Der mildere Unterton war: „Ihr verfügt noch nicht über die richtigen Werte, nämlich unsere“. “Got the message, dear“ (haben wir kapiert, Kleine) dachten die Inder wohl in der Sprache ihrer vormaligen Kolonialherren oder in einer ihrer 121 Landessprachen. Der hier Schreibende dachte sich: Schon erstaunlich, wie untalentiert man sein und doch Bundesministerin des Auswärtigen der BRD werden kann.

Exkurs: das Weltbürgertum, der Kosmopolitismus
Der Kosmopolitismus, die Idee des Weltbürgertums, die ein gegenseitig verantwortliches Miteinander aller Menschen fordert und Kriege radikal ächtet, ist ein geeignetes Denkinstrument, um bestimmte, träge und unbedacht akzeptierte Konstrukte – wie oben genannt: Volk, Nation, Staat – grundlegend zu relativieren. Es ist geeignet dafür, hinzuschauen, ob diese Konstrukte in ihren jeweiligen Ausprägungen den Menschen dienen oder ob durch sie Menschen benutzt werden, zynisch und ungeachtet dessen, ob deren Lebensumstände, deren Unversehrtheit, deren Leben auf dem Spiel stehen.

Nochmals: das Ansehen Deutschlands
Kommen wir zurück zur Sorge um das Ansehen der BRD und zu unserem Beispiel des sog. Nahostkonflikts. Es ist unzweifelhaft sinnvoll und unverzichtbar, dass wir Deutsche vor dem Hintergrund der in der Weltgeschichte beispiellosen Verbrechen an jüdischen Menschen und anderen Opfergruppen, die im Namen deutscher Menschen in einer verbrecherischen Epoche verübt wurden, eine besondere Verpflichtung gegenüber diesen Opfern und deren Nachfahren empfinden. Verbrechen, die nie gesühnt werden können und die nie vergessen werden dürfen. 
Nur scheint es so, dass es unserer Gesellschaft nicht gelungen ist und nicht gelingt, diese Verpflichtung als eine Verpflichtung von Menschen gegenüber Menschen zu begreifen und zu gestalten. Eingebettet zu begreifen in einen unserer Geschichte geschuldeten Auftrag, weltweit zu den Fachleuten und Gewährsleuten für Menschenwürde und Menschenrechte zu zählen.
Etwas weniger abstrakt gesagt:  So wie Israel sich als virtuelles Staatsgebiet, als Heimat, aller Jüdinnen und Juden auf dieser Erde versteht, so kann und muss Deutschland sich als virtuelle Heimat aller Menschen verstehen, denen ihre Würde, ihre Menschenrechte verweigert oder geraubt werden.
Virtuell bedeutet nicht in erster Linie den Zuzug nach Deutschland – mit dem deutschen Asylrecht kann nicht das gesamte Elend der Welt geheilt werden. „Virtuell“ kann und muss eine verlässliche Garantie bedeuten dafür, dass wir Deutsche als Einzelne sowie durch von uns widerruflich beauftragte Politiker*innen für Entwürdigte da sind, dass wir uns für sie einsetzen, dass wir mit allen erdenklichen gewaltfreien Mitteln für sie kämpfen. Überall auf der Welt.
Und übrigens – der hier Schreibende ist davon überzeugt – von einem politisch neutralen Deutschland aus. Die Chance dazu wurde wieder einmal grandios und vermutlich auf lange Zeit in den Jahren 1989/1990 vertan, dank des hartnäckigen, zwanghaften Westlich-Sein-Bewusstseins der politischen Eliten im Land. 
Der katholische Industrieseelsorger i. R. und leidenschaftliche Pazifist Paul Schobel, unser Interviewpartner im April 2024, hat diesen universalen Auftrag an uns Deutsche unnachahmlich in einfache Worte gefasst: „Wir wären die Berufenen gewesen.“11

Die Absurdität
Die Wiederholung in Kauf nehmend: Unsere Rolle im sog. Nahostkonflikt kann nur glaubwürdig und ehrenhaft sein, wenn wir die Menschen in den Blick nehmen, die jüdischen, die palästinensischen, die jordanischen. Denen allein muss unsere Solidarität, unsere Verpflichtung gelten. Und nicht, zumindest nie in erster Linie, Staaten und Regierungen.
Es kann nur als absurd angesehen werden, dass wir deutsche Staatsbürger*innen zuschauen, wie in unserem Namen die Regierung eines Mannes massiv unterstützt wird, der zynisch in Kauf nahm und nimmt, dass abertausende Zivilisten, Väter, Mütter, Kinder getötet werden, eines Mannes, der physisch sichtbar hohnlachend selbst nur leichte Kritik von Freunden wegwischt, eines Mannes, der sich von der in der UNO manifesten Weltgemeinschaft dadurch verabschiedete, dass er deren höchsten und klugen Repräsentanten, den Generalsekretär António Guterres, zur Persona Non Grata, zur unerwünschten Person erklärt hat, dem die Einreise nach Israel strafbewehrt versagt ist. Da wurde Guterres eine diplomatische Handgranate vor die Füße geworfen.
Es ist bestürzend, wie die Regierung der BRD bis heute eine verwerfliche, blödsinnige Reckentreue zu dem Mann hält, der in diesen Wochen und Monaten selbst der schrecklichste Antisemit ist: der israelische Ministerpräsident Netanjahu.      
k.sch. / 16.11.2024
Anmerkungen
1 Information zu HRW (aufgerufen 16.11.2024)
2 Artikel zum Bericht (engl.) und als kurze Nachricht (deutsch) (aufgerufen 16.11.2024)
3 HRW-Bericht im Original (169 Seiten, engl. mit Download ) (aufgerufen 16.11.2024)
4 Artikel bei UNRIC (Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen) (aufgerufen 16.11.2024)
5 Artikel bei Reuters im Original (engl.) (aufgerufen 16.11.2024)
6 Bericht des UNDP (28 Seiten, engl. mit Download) (aufgerufen 16.11.2024)
7 Übersetzung in der Bibliothek
8 Zitat Merkel bei der bpb (aufgerufen 16.11.2024)
9 Information zur bpb (aufgerufen 16.11.2024)
10 Eintrag in Das junge Politik-Lexikon der bpb (aufgerufen 16.11.2024)
11 Artikel Paul Schobel vom 30.04.2024
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