Ein Medien-Experiment en miniature
„Eine Dokumentation ist dann gelungen, wenn sie in der Seele nachhallt und man mehr wissen möchte … und das ist bei mir der Fall“, so fasst Christiane (54), eine Teilnehmerin am Experiment, ihre Stellungnahme zusammen.
Doch „alles auf Anfang“ – wie man im Film-Jargon angeblich sagt. Bis Ende Januar 2024 hatten mir Leserinnen und Leser der r.i.b.-nachrichten1 ihre Stellungnahmen zur sechsteiligen TV-Doku-Serie Russian Wonderland – Krieg und Alltag auf der Krim2 zugeschickt.
Die Handlung kurz skizziert:
Die Doku-Reihe begleitet den Entertainer Spartak und die Mitarbeiter/-innen seiner "Internationalen Striptease-Show" von Juni 2021 bis Juni 2023 in den Urlaubs-Hotspots auf der Krim. 2021 machten noch fast neun Millionen Russen Urlaub auf der Krim. 2023 ist die Krim längst Kriegsschauplatz, Strände sind gesperrt, Schützengräben ausgehoben, Touristen sind nicht gekommen.
Wochen zuvor wurde mir über einen privaten Kontakt die Aussicht angeboten, mit dem Produzenten der Serie zu sprechen. Diese Chance wollte ich nicht für mich allein haben, meine Leserinnen und Leser sollten irgendwie dabei sein. Ankamen 15 Stellungnahmen zur Serie im engeren Sinn, durchweg sehr verschiedene, persönliche Aussagen. Sie sind die Ergebnisse einer jeweils dreistündigen Zuschauzeit und eines anschließenden engagierten Schreibens. Alle Stellungnahmen sind als Sammlung anonymisiert zugänglich3.
Mitte März 2024 hatte ich dann das Gespräch mit dem Produzenten Frank Müller von der DOPPELPLUSULTRA FILMPRODUKTION GmbH in Hamburg. Dieses Gespräch wurde zu einem zweistündigen, konzentrierten, dynamischen Gedankenaustausch, der sich von der Gestaltung eines Films bis hin zu philosophischen Fragen über das Zusammenleben der Menschen bewegte.
Unser Experiment war für Frank Müller ein in dieser Form erstmaliger Vorgang. Selbstironisch bekannte er: „Als Produzent sitzt du jahrelang in deinem Aquarium, in einem Glashaus, feilst und feilst an Bildern und Texten und hast kaum je Kontakt zu deinem Publikum.“
Dieses intensive Gespräch protokollartig wiedergeben zu wollen, wäre so unangemessen wie unmöglich. Ich beschränke mich auf markante Stellen und erlaube mir am Schluss eine persönliche Wertung.
Ausgangslage
Arbeitsprozess
- es geht nicht um große Politik, die Menschen sollen gehört werden
- die Menschen dort sind keine seelenlosen Ungeheuer
- sie sind Opfer der Politik
- die Serie maßt sich kein Urteil über sie an
- wie leben die Menschen auf der Krim?
- wie reagieren sie, wie bringen sie ihren Alltag zusammen?
- unterscheidet sich ihr Alltag von dem in Deutschland?
Politik
- es herrschen deutliche Zwänge im politischen System
- in der Serie wird nicht ausgeblendet, dass Russland ein totalitärer Staat ist, „ein Land, in dem ich nicht leben möchte“ (Frank Müller)
- in diesem gesellschaftlich-politischen Kontext hat der Regisseur Dmitri Vologdin Charaktere gefunden, die ihn interessieren
- die Protagonistinnen und Protagonisten sind spannend und charakterstark
- die Menschen haben das allumfassende Bedürfnis zu überleben
- dafür gehen sie Kompromisse ein
- kann man sie deswegen des Konformismus bezichtigen?
- welche Fragen kommen beim Publikum der Serie zur Moral der eigenen Gesellschaft auf?
Problemlage
Anspruch
Das Experiment
Abspann
Es bleiben noch einige Zeilen für eine persönliche Wertung. Das Gespräch mit Frank Müller hat, wie seine Dokuserie auch, etwas mit mir gemacht. Mir wurde im Gespräch wieder deutlich, dass Kunst immer ein völliges Wagnis ist. Sie wirkt, wenn sie die Menschen berührt. Sie wirkt, wenn bei den Menschen für sie unbewusst schon ein innerer Raum da ist, wo das Werk „in der Seele nachhallen“ kann.
Durch unser Experiment – das Gespräch mit dem Produzenten war der entscheidende Teil davon – hat sich mein Eindruck vertieft und ich ergänze: Die Dokuserie atmet einen tief humanistischen, menschenliebenden Geist. Die mitschwingende Botschaft ist die der Vision einer gewaltfreien, im positiven Sinn anarchistischen, kosmopolitischen Weltgemeinschaft der Menschen, nicht der Staaten. Staaten, Nationen, Vaterländer sind menschenferne Konstrukte, tödliche Gefahren in sich bergend. Ein hohler Schein, eine Illusion, ganz so wie die spielerisch angenommenen Scheinnationalitäten der Tänzerinnen.
In der Folge 4 sinniert Spartak, der Impresario der Show und „der Philosoph unter den Schlawinern“ (zit. nach einem TN) mit prophetischer Schwermut über die Zukunft: „Denn Kinder, die ihre Kindheit im Bombenhagel verbracht haben, werden auch mal erwachsen. Sie werden uns das nie verzeihen.“ (ab min 26:43)
2 Link zur Doku-Serie (gestaffelt abrufbar bis 21.11.2025 bzw. 08.02.2026)
3 alle Stellungnahmen, in einer zusammenhängenden Pdf