Man hätte es wissen können

Anderen Unwissenheit vorzuwerfen, ist so billig wie unappetitlich. Dieser Beitrag macht niemandem Vorwürfe, er lädt zum Hinschauen ein, zum Analysieren und Nachdenken – ungeachtet seines Untertitels.

Worum geht es? Die Akteure Musk, Trump und Vance verbreiten dieser Tage Schrecken und geben Rätsel auf. Ein millionenfach verbreiteter Video-Clip1 zeigte Wirkung. Zugespitzt könnte die Essenz des Clips so beschrieben werden: Ein Mächtiger und sein Assistent lassen einen weniger Mächtigen wissen: „He, Bürschle, pass mal auf, du benimmst dich jetzt und machst genau das, was wir dir sagen, andernfalls kannst du dich gleich verpissen“. Ein klares Machtgefälle, eigentlich nichts Überraschendes. Da wurde lediglich in aller Öffentlichkeit so gesprochen, wie man sonst vermutlich hinter verschlossenen Türen spricht. Herr Selenskyj hat sich verpisst, die Herren Trump und Vance sind im Oval Office geblieben, der Sakristei der geballten Macht der USA. So geht es halt zu in der Politik, in der großen wie in der kleinen. 

Und doch, Aufschreie der politischen Szene allenthalben, und Erstaunliches folgte. Frau von der Leyen, die Kaiserin Europas, schiebt wenige Tage später – ohne jegliche demokratisch-parlamentarische Legitimation – den Regler am finanziellen Mischpult der EU hoch auf 800 Milliarden Euro für die von ihr im Alleingang ausgerufene "Ära der Wiederaufrüstung“ Europas. Dabei konnte selbst die Tagesschau der ARD nicht ganz unkritisch bleiben.2

Das Überrascht-Sein der Medien, der Politik, der Gesellschaft nicht nur vom Video-Clip, sondern vom gesamten politischen Gebaren der Herren Musk und Trump seit der Wiederwahl des Letzteren zum Präsidenten der USA muss erstaunen. Denn – das nur als kurzen Gedanken – vermutlich einige Busladungen voller Bundestagsabgeordneter haben Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte studiert.  Die Begriffe „libertär“ bzw. „Libertarismus“ sollten ihnen vertraut sein. Oder soll man ihnen und den Medienschaffenden, ebenfalls zumeist studierte Leute, zugute halten, dass z. B. zwei respektable, handliche Politik-Lexika3 sich zwar über „Liberalismus“ auslassen, doch zu „Libertarismus“ schweigen? Wikipedia schweigt nicht.4 Schüchtern sei angemerkt: Es gibt außerdem immer noch Fachbücher in diesem Land.

Kurz und einfach ausgedrückt, in „libertär“ steckt wie in „liberal“ das lateinische „liber“, welches „frei“ bedeutet. Die Libertären wollen frei sein vom Staat und haben das spätestens seit der Mitte des 19. Jh. in unterschiedlichen Gedankengebäuden diskutiert. Bis hin zum ‚Premium-Konzept‘ des Libertarismus, nämlich dem Anarcho-Kapitalismus5, wo nicht nur die Demokratie, sondern der Staat als solcher dem kapitalistischen Wirtschaften restlos weichen muss. Allerdings führten diese Diskussionen meist ein Schattendasein, schienen Gedankenspiele am Rande des öffentlichen Bewusstseins zu sein. 

Jetzt ist anzunehmen: Eines dieser Gedankenspiele – und zwar gleich das ‚Premium-Konzept‘ – wird gerade Realität, erklimmt eine der weltweit bedeutendsten politischen Bühnen: das Weiße Haus in Washington. Nur scheinbar plötzlich. Denn die Anzeichen waren da, kluge Köpfe haben sie erkannt und analysiert. Man hätte es wissen können, zumindest ahnen.

Als ein Beispiel für dieses Wissen-Können sei das Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ des Kanadiers Quinn Slobodian genannt. 2023 erschienen, mutet der Titel heute an wie das politische General-Konzept von Musk und Trump. Die Website des Suhrkamp-Verlags beschreibt das Buch Slobodians so:

„Freiheit und Demokratie, so der Investor Peter Thiel 2009, seien nicht länger kompatibel. Wer die Freiheit liebe, müsse daher versuchen, der Politik in all ihren Formen zu entkommen. […] In Kapitalismus ohne Demokratie geht es […] um eine […] Lösung für das von Thiel beklagte Problem: die Zerschlagung der Welt in Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen. Slobodian nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der neoliberalen Utopien.6

Die längst ausverkaufte Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)7 sagt im Klappentext:

Kapitalismus als Priorität, Demokratie als Option: Seit einigen Jahrzehnten arbeiten Marktradikale daran, die nationalstaatliche Weltordnung zugunsten eines kleinteiligeren Systems verschiedener Zonen hinter sich zu lassen, so der Historiker Quinn Slobodian. […]. Anhand von Beispielen unter anderem aus Hongkong, Singapur, Dubai und Liechtenstein zeigt er die Wirkmacht der Theorien und Vorstellungen von Akteuren auf, die eine solche fragmentierte Ordnung entwarfen oder an ihrer praktischen Umsetzung arbeiteten. Von der City of London bis nach Südafrika und Somalia spürt er Versuchen nach, das öffentliche Leben zu privatisieren und Rechtsordnungen zu etablieren, die sich von der Gesetzgebung der umgebenden Nationalstaaten loslösen. Slobodian sieht darin Bestrebungen von meist Wohlhabenden und Mächtigen, das gesellschaftliche Gewebe zu durchsetzen und aus der geteilten sozialen Welt auszusteigen. Die von ihnen erträumten und zum Teil realisierten Zonen seien nicht zuletzt ein Mikrokosmos, in dem Arbeiterinnen und Arbeiter entmachtet und markante, in vielen Fällen rassifizierte soziale Hierarchien etabliert worden seien.

Unsere Auffassung, der Libertarismus betrete mit Musk und Trump die Weltbühne, mag im Widerspruch erscheinen zur Schilderung von Mikronationen, Steueroasen und Zonen bei Slobodian. Nur sind die Grundprinzipien hier wie dort nahezu identisch:  
a) völlige Privatisierung des öffentlichen Lebens und damit Begrenzen bzw. Abschaffen öffentlicher gesellschaftlicher Räume,
b) eigene Rechtsräume für kapitalistische Akteure (z. B. minimale Besteuerung, selbstverwaltete Regelungen, keine supranationalen Vorschriften, außerstaatliche Gerichtsbarkeit in Freihandelsabkommen),
c) Staaten werden gesehen und geführt wie Firmen bzw. Konzerne, Lohnabhängige sind rechtlos.

Zudem, wer garantiert, dass Musk und Trump, vor allem Musk, der reichste Mensch auf diesem Planeten, die USA nicht langfristig zu einem Makro-Modell des Anarcho-Kapitalismus entwickeln? D. h. ein ganzes Land, seine Einrichtungen und seine Gesetze ausschließlich auf den Vorteil der Unternehmen und des Kapitals ausrichten? Ohne alles Sozialgedöns mit Tariflöhnen, Rente, Krankenversorgung, Altersversorgung, Urlaub, Streikrecht, Gewerkschaften und weiterem sozialromantischen Unfug?

Das Cover von Slobodians Buch in der Original-Ausgabe des Suhrkamp-Verlags8 pointiert optisch die gegenwärtig schrillste Spielart des Libertarismus: Dubai.
Slobodian sagt dazu.:

„Dubai war ein Lehrbeispiel für Kapitalismus ohne Demokratie. Anfang des 21. Jahrhunderts zählte es zu den Ländern mit der geringsten politischen Freiheit: Es gab keine freien Wahlen, keine Meinungsfreiheit, keine Rechte für Nichtbürger. Die Polizei setzte willkürlich Gewalt ein, und Zwangsarbeit war verbreitet. Schon im Jahr 1985 hatte die CIA berichtet, in Dubai werde die Ideologie9 »als für das Wirtschaftsleben irrelevant« betrachtet. […] Besonders auffällig war die Ähnlichkeit der Regierungspraxis mit der Unternehmensführung. Macht und Eigentümerschaft waren in den Händen des Scheichs gebündelt, der auch als »CEO von Dubai, Inc.« bezeichnet wurde. Der Regierungsrat des Stadtstaats bestand nicht aus gewählten Volksvertretern, sondern aus den Leitern großer Staatsunternehmen. Die Folge war, dass keine öffentliche Meinungsbildung stattfand – tatsächlich war die Idee der Öffentlichkeit überhaupt nicht präsent.“10

Slobodian spricht hier – wie in seinem Buch insgesamt – eine unmissverständliche Sprache, die bedauerlicherweise von der breiten Öffentlichkeit hier im Land weder gehört noch verstanden wurde. Eine wohltuende Ausnahme: Tom Wohlfarth schreibt in der taz/die tageszeitung: »Slobodian widmet den düsteren Experimenten wie ihren zynischen Visionären ein beeindruckend akribisch recherchiertes und dabei erfreulich pointiert geschriebenes Buch, das wir als Warnung vor einer (bereits gegenwärtigen) Zukunft verstehen müssen...«11 

Man hätte es wissen können. Dann wären auch so putzige Zeitungsartikel ungedruckt geblieben wie ein großflächiger Essay in einer süddeutschen Tageszeitung mit dem Titel: „Ein Staat, kein Unternehmen“.12 Ein – ernsthaft gesprochen – kluger und erfahrener Redakteur will die Herren Musk und Trump partout belehren. O-Ton des Vorspanns zum Artikel: „Können Staaten wie Betriebe geführt werden? Der designierte US-Präsident Donald Trump und der Tech-Milliardär Elon Musk behaupten das. Doch sie irren sich.“ 
Oh Gott, Musk und Trump sind sicher mächtig erschrocken und haben schlotternd Umkehr gelobt. Im Artikel übrigens kein Wort zu einem weitergehenden ideologischen Hintergrund der aufgeworfenen Frage. Einmal ein zaghaftes: „Mit die größten Profiteure radikaler Deregulierung wären Trump und Musks Unternehmensimperien und die ihrer Freunde – der Oligarchenstaat lässt grüßen“. Der US-amerikanische, wohlgemerkt.

Zurück zum Ausgangspunkt, zum Untertitel dieses Beitrags. Wie schön wäre es, wenn in Deutschland intensiver politisch-theoretisch gedacht würde. Unaufgeregt analysierend, nicht dem Tagesgeschehen hinterherhechelnd, öffentlich, in den Medien, in den Bildungseinrichtungen, in den Parteien, in der Zivilgesellschaft. 

Die Demokratie ist ein kostbares aber auch höchst zerbrechliches Gut. Zurzeit wird sie in der Bundesrepublik nur zum Schein dadurch „verteidigt“, dass  bestimmte politische Kräfte und Parteien sich allein als „demokratisch“ oder als die „demokratische Mitte“ definieren. Nur wird das nicht reichen, weil diese „Verteidigung“ faul, ohne gedankliche Auseinandersetzung, ohne politische Phantasie und vor allem weitgehend ohne Beachtung der Bedürfnisse und Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger daherkommt. 

„Sapere aude“ sagte Immanuel Kant, wohl der bedeutendste Philosoph, den dieses Land hervorbrachte. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Ist halt schon verdammt lange her. Letztes Jahr feierten manche Leute Kants dreihundertsten Geburtstag. 

PS: Eine persönliche Bemerkung sei erlaubt. Den Autor schaudert es, wenn redlich arbeitende Klein- und Mittelverdiener Urlaub in Dubai machen, um dann Selfies von sich mitten im weltweit größten Protz und Glamour heimzuschicken. Nach Hause zu schicken, dort wo im Regal des Supermarkts die Dubai-Schokolade thront. Abglanz von Protz und Glamour, bereitgehalten zum bedeutungsstiftenden In-sich-hinein-Mampfen.

05.03.2025
k.sch.

Anmerkungen
1 https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/trump-selenskyj-weisses-haus-100.html  [aufgerufen am 05.03.2025]
2 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-finanzierung-aufruestung-perspektiven-100.html  [aufgerufen am 05.03.2025]
3 Schubert, Klaus und Klein, Martina, Das Politik Lexikon, Bonn: Dietz Verlag, 8. Aufl. 2021.
Nohlen, Dieter und Grotz, Florian, Hrsg., Kleines Lexikon der Politik, München: C.H.Beck Verlag, 6. Aufl. 2015. 
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Libertarismus [aufgerufen am 05.03.2025]
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchokapitalismus [aufgerufen am 05.03.2025]
6 https://www.suhrkamp.de/buch/quinn-slobodian-kapitalismus-ohne-demokratie-t-9783518431467? [aufgerufen am 05.03.2025]
7 Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2024.
8 Der Verlag hat unserer Redaktion das Cover großzügig zur Veröffentlichung überlassen und uns in seine Werkstatt schauen lassen: Ein NASA-Foto zeigt das Mega-(Irrsinns-)Projekt der Ein-Mann-Regierung Dubais vom Weltraum aus: ein Archipel von 300 künstlichen Inseln, welches die Konturen einer Weltkarte abbilden soll. 
9  engl. „ideology“ bedeutet auch: Weltanschauung, Ideenlehre, Gedankengebäude. 
10 zit. nach der Sonderausgabe der bpb, S. 243. Vgl. Anm. 7.
11 vgl. Website wie Anm. 6. 
12 https://www.badische-zeitung.de/staaten-kann-man-nicht-wie-unternehmen-fuehren [Zahlschranke, zitierter Vorspann sichtbar] [aufgerufen am 05.03.2025]

 

 

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