Bild: privat

Bemerkungen zu einem gecancelten Vortrag

„Erinnerungskultur und Staatsräson nach dem 7. Oktober 2023“ nennt Dr. Muhammad Sameer Murtaza1 seinen Vortrag, den er in diesen Tagen „irgendwo in Deutschland hätte halten wollen“. Nur: dieser wurde einvernehmlich gecancelt, wie er sagt. Dass der muslimische, deutsche Islamwissenschaftler, Philosoph und Buchautor hier nicht deutlicher wird, ist seiner feinsinnigen, fairen Grundhaltung zuzurechnen. Sein Vortrag allerdings lässt es an Deutlichkeit in keiner Hinsicht fehlen.

„Die Diskursgrenzen hierzulande sind derart eng geworden“ erläutert er und beklagt, „dass zivile Akteure mit erheblichen Nachteilen, vielleicht sogar Ausschluss rechnen müssen, wenn ein solcher Vortrag gehalten wird.“ Es ist so mutig wie dankenswert, dass er seinen Debattenbeitrag vor wenigen Tagen auf anderem Weg2 zugänglich gemacht hat. 

Sein jüngster Vortrag kommt zur rechten Zeit, da sich Millionen Menschen in Deutschland insgeheim fragen, ob in ihrem Land mittlerweile Völkermord und Angriffskriege auch zur sog. Staatsräson gehören.  

Murtazas unerschrockene Deutlichkeit sollte unserem Land eigentlich höchst willkommen sein, in dem ein brüllend lautes Schweigen die Parallelität zudeckt, welche den Terror der Hamas eng mit dem Terror des religiösen Zionismus verbindet. In diesem eingeübten, duckmäuserischen Schweigen scheinen Politik und Medien der BRD „Weltmarktführer“ zu sein. Wenigstens da, mag man ironisch anmerken. 

Der Autor berührt die Themen: Holocaust, jüdisches Leben in Deutschland, Israel, Staatsräson und Verantwortungskultur. 

Muhammad Sameer Murtaza spricht eine analysierende, klare Sprache. Es gelingt ihm, bis in feinste, brillant formulierte sprachliche Übereinstimmungen hinein aufzuzeigen, wie absolut deckungsgleich die ideologischen Grundlagen der Terrorismen beider Seiten sind. 

Murtaza spricht beiden vehement das Recht ab, sich auf ihre jeweilige Religion zu berufen und sieht die Auseinandersetzung ausschließlich auf Gebietsansprüche gegründet. Ansprüche auf ein Land, das jeweils „from the river to the sea“3 reichen soll. Mit anderen Worten wird die jeweils andere Seite programmatisch radikal ihres „Wohnrechts“ und weitergehend ihrer Daseins-Berechtigung beraubt. 

Murtaza stellt seine Überlegungen in einen historischen Kontext, in „eine Konfliktgeschichte“ und konzentriert sich dabei auf die vom Internationalen Gerichtshof schon längst als Unrecht und als Politik der Apartheid gebrandmarkte Besatzung palästinensischer Gebiete durch Israel, also die sog. Siedlungspolitik.

Ohne viel vorwegzunehmen seien hier wenigstens zwei Passagen aus dem Vortrag wiedergegeben.
1. „Die Ideologien des Hamas und des Siedler-Zionismus zu kritisieren bedeutet weder, ein Muslim-Feind noch ein Antisemit zu sein, sondern ist das, was Philosophen tun: Ideologiekritik betreiben. Das Zentrum beider Ideologien ist die Vorstellung, dass Gerechtigkeit der Vorteil der eigenen Stärke ist, wodurch Wahrheit und Integrität verhöhnt werden. Boden ist weder jüdisch, arabisch noch islamisch. Boden ist einfach nur Erde und Wasser. Der Boden hat keine Religion, und Gott ist kein Immobilienmakler, der Grund und Boden an jene vergibt, die sich über ihre Mitmenschen erheben. Religionsgemeinschaften, die unmenschlich gegen Menschen agieren, verraten ihren Friedensauftrag, der in den Worten Salam und Shalom zum Ausdruck kommt.“ [ab min 15:15]
2. „Es gibt keine religiöse und/oder ethische Rechtfertigung für Terrorismus, Landraub und Vertreibung, und es wird sie niemals geben. Wer Partei ergreift für ein islamisches Palästina oder für ein jüdisches Eretz-Israel4 verlässt den Boden der Vernunft und stellt sich in eine Argumentationslinie, derzufolge es ein religiös-historisches Anrecht auf einen bestimmten Boden gibt.“ [ab min 19:59]


Ein höchst hörenswerter Beitrag, der Tabubrüche nicht scheut. So tritt der Autor z.B. wie selbstverständlich für den Boykott von Produkten aus den annektierten sog. Siedlergebieten ein. Die 39 Minuten und 17 Sekunden, die das Audio dauert, sind in jedem Fall sinnvoll investiert.

k.sch.

1 Muhammad Sameer Murtaza bei Wikipedia
2 Vortrag als Audio bei YouTube
3 „Gemeint ist das Territorium zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, auf dem sich auch Israel befindet.“ [s. Artikel taz vom 26.09.2024] 

4 „Traditionelle hebräische Bezeichnung für das Land, … in dem die Israeliten nach biblischer Darstellung sesshaft wurden.“ [s. Wikipedia]

Anmerkungen: 
1 Dieser Artikel hat Herrn Dr. Murtaza vorgelegen. Für seine Durchsicht dankt ihm die Redaktion herzlich.
2 Der Vortrag wird vermutlich in einer Druckfassung in der deutschen Ausgabe eines US-amerikanischen politischen Magazins erscheinen. Hierüber werden wir ggf. berichten.

Ein Tipp am Rand:
Bei JACOBIN gibt es einen bemerkenswerten Artikel zu den deutschen Medien und deren Verhältnis zum Krieg in Gaza.

 

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.