Gedanken beim Lesen eines notwendigen Appells
Der Arzt und Schriftsteller Dr. Till Bastian spricht in einem Appell zum neuen Jahr 2024 aus, was unzählige Menschen im Land in den Tiefen ihres Gemüts zu fühlen wagen, was allerdings nur wenige sagen: Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein.
Aber halt! Darf man – wie es Till Bastian tut – überhaupt davon reden, wir sollten nicht tüchtig und nicht tauglich sein? Wo bleiben da die beinharten Standards dieser Gesellschaft: Fleiß, Ausdauer, Verlässlichkeit, Durchsetzungsvermögen, Erfolg?
Man darf nicht nur davon reden, man muss. Dringend und laut.
Ein Mann wie Verteidigungsminister Pistorius mit seiner phantasielosen, dumpfen Forderung, dieses Land und seine Menschen müssten wieder „kriegstüchtig“ sein, kommt ja keineswegs aus dem Nebel des Nichts daher. Dieser Mensch treibt lediglich gerade das auf die Spitze, was die BRD seit Mitte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts erlebt, nämlich eine schleichende, perfide Gewöhnungsstrategie. Die Gewöhnung an das Militärische.
Mein erstes Staatsbegräbnis habe ich live im Jahre 1967 miterlebt, einen Teil davon zumindest, am Straßenrand in Pforzheim – als einer von Tausenden, die zum Abschiednehmen gekommen waren. Der verstorbene Politiker Fritz Erler wurde auf einem, Lafette genannten, profanen Kleinlastwagen von der Schlosskirche hinauf zum Hauptfriedhof gefahren, der Sarg in eine Fahne gehüllt. Vor der Kirche hatte es, so war zu erfahren, das große Besteck gegeben: Ehrenformation in Kompaniestärke, Gewehre, Kommandos, Musik.1 Und jetzt: Acht behelmte Soldaten in schweren Mänteln und derben Stiefeln laufen die lange Strecke neben diesem Transport – langsam, bedeutungsvoll. Der Kern eines langen Zuges.
Nun muss man wissen, dass Fritz Erler einer der heftigsten Kritiker der Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik gewesen war. Seine Streitreden im Bundestag in Bonn gegen das vormalige NSDAP-Mitglied und späteren Bundeskanzler Kiesinger waren Legende. In Schellackplatten gepresst waren sie eine gewisse Zeit lang Unterrichtsmaterial in Gemeinschaftskunde.
Zurück zum Trauerzug in Pforzheim. Was will eine Gesellschaft, was will ein Staat eigentlich sagen, wenn sie bestimmte Verstorbene durch militärischen Pomp ehren? Ist dieser Pomp das Edelste, das „Heiligste“ einer Gesellschaft, eines Staates, das da hergezeigt wird? Haben Gesellschaft und Staat nichts anderes zu bieten? Nichts Persönliches, nichts Menschliches, nichts Tröstendes? Nichts außer einer Fahne, einer Lafette, außer Helmen und verhalten latschenden Männern in Grau? Ich habe das an jenem kalten Februartag nicht verstanden, ich war befremdet. Ich verstehe es noch heute nicht.
Nicht wenig erschrocken bin ich im Frühsommer 2012. Erschrocken über das Statement des bis heute als integer gehandelten damaligen Bundespräsidenten Gauck: "dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glücksüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen“.2
The pursuit of happiness (das Streben nach Glück) ist in den USA eines von drei Grundrechten in Verfassungsrang, neben dem Leben und der Freiheit. Und da stellt sich in unserem Land einer hin und verkündet, sinngemäß: „Zu viel Glück ist nicht gut für euch, es muss endlich mal wieder richtig gestorben werden, und zwar im Krieg“. Und nur wenige störten sich an dieser unerhörten Anmaßung, an dieser dummdreisten Brutalität.
Da habe ich dann vollends verstanden, dass diese perfide, schleichende, bevormundende Gewöhnungsstrategie schon längst auf dem Siegeszug ist. In diesen Tagen marschiert halt ganz vorne ein Herr Pistorius, neben ihm ein Bundeskanzler, der kürzlich unter zum Teil heftigem Beifall im Bundestag in Berlin mal eben das Sümmchen von hundert Milliarden an Rüstungskohle aus dem Ärmel schüttelte. 100 Milliarden sind eine Zahl mit elf Nullen.
Ich bin Till Bastian von Herzen dankbar für seine so eindeutigen wie unerschrockenen Worte wider den Wahnsinn, immer noch und immer wieder Krieg als Mittel der Politik zu akzeptieren, gar ein ganzes Land auf Krieg einzustimmen.
Möge sein Appell viele Menschen im Land erreichen, ihnen Mut machen, laut zu werden, Widerstand zu leisten gegen eine todbringende Gewöhnungsstrategie, gegen das fahrlässige Herbeireden von Krieg. Es ist höchste Zeit.
Gern empfehle ich Till Bastians Appell.
Klaus Schittich